Wir Kinder der Hölle Folge 002: Johnny und New York

„He, du da!“


Der große Blonde grinste sie arrogant über die Bankreihen hinweg an und offenbarte eine Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Der Typ stank nach Ärger und Amelia wusste, dass er in ihr ein Opfer sah, dass er gefahrlos schikanieren konnte. Ein Fehler, den schon andere gemacht und bereut hatten. Du hast ja keine Ahnung, mit wem du dich hier einlässt, dachte sie finster. Sie ignorierte seinen Kontaktversuch und wendete Sich den farbigen Bleiglasfenstern zu.


Sie war kein einfaches Kind.


Sie war auch nicht freiwillig hier.


Natürlich nicht.


Amelias Krückstock hatte eine Einladung vom grauen Schnauzer bekommen. In diesem öden Kaff steckten sie die Problemkinder in die Kirche und der Pfarrer donnerte ihnen Strafen auf. Der graue Schnauzer war der örtliche Polizeiwachmann, ein spießiger Paragrafenreiter, der die ungezogenen Kinder wohl am liebsten in irgendwelche Lager gesteckt hätte. Stattdessen beförderte er sie in die Kapelle, wenn sie etwas ausgefressen hatten. Er glaubte wohl, dass sich die Kinder bei Arbeit und Absolution ein wenig  mit Gott infizierten.


"Was machst du denn hier, sag mal?“


Der große Johnny grinste sie schon wieder an und legte seine starken Arme auf die Banklehne. Amy bedachte ihn mit einem bösen Blick von ihrem gesunden Auge.


„Sie hat jemanden verprügelt“, beantwortete der blasse Junge von der gegenüberliegenden Kirchbank gelangweilt Johnnys Frage und drehte an einer Zigarette herum.


„Echt?!“

Johnny setzte ein überraschtes Gesicht auf und musterte Amelia nachdenklich.


Na toll, dachte sich Amelia. Ich bin schon das Dorfgespräch.

„Lasst mich bitte in Ruhe“, sagte sie leise.


„Was?“


„Lass sie in Ruhe“, sagte der rothaarige Zigarettendreher.


Amelia ergriff ihren Stock und stützte sich im Sitzen drauf. Der Stock gab ihr das Gefühl von Sicherheit. Das brauchte sie jetzt. Sie hasste ihn dafür.

Sie schloss die Augen, senkte ihren Kopf seufzend und hoffte, der Tag würde schnell vorbeigehen oder sie würde sterben oder sonst irgendetwas würde passieren, dass sie aufheitern konnte. Man hätte fast meinen können, dass sie gerade dafür betete.

Vor ihrem inneren Auge blitzte es und ihr Stock tanzte auf dem Gesicht vom starken Johnny.


Bäm! Bäm! Spürst du das, Drecksack?!


Sie fühlte sich gut, wenn sie auf andere einprügelte. Richtig gut.  Draufzuhauen und dann die panische Angst und Überraschung der geprügelten Hunde zu sehen, das gab ihr ein gutes Gefühl. Solche Schläge erwartet keiner von einem kränklichen, halbblinden Mädchen. Amelia sah kurz zum blonden Jungen, der vorläufig das Interesse an ihr verloren hatte und nun mit offenem Mund die Decke anstarrte. Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig. Man könnte fast meinen, es wäre ein böses Lächeln, das ihre Gesichtsmuskeln da zu produzieren versuchten.


Doch ihre Mimik hatte sie besser unter Kontrolle, als ihren Zorn. Diese brutale Aggressivität in ihr, die in letzter Zeit immer höher kochte, gab ihr zu denken. Vor dem Unfall war sie kein bisschen aggressiv gewesen. Manche nannten sie sogar eine langweilige Streberin. Ein Bücherwurm mit zu viel Fantasie. Dann lernte sie Richard kennen. Sie liebte ihn und Richard liebte sie - abgöttisch. Sie waren zusammengeschweißt, wie es nur durch wahre Liebe geschieht.


Er war 16, sie 15, und er zeigte ihr eine wilde und ausgelassene Seite des Lebens. Ja, er verführte sie, sie betranken und sie liebten sich. Er tanzte Chaos und Amok und sie folgte ihm überall hin. Mit Richard versank sie in einem Rausch, der mit einem lauten Schlag vorbei war.


Für immer, Amelia.


Den Geruch von abgestandenen Weihrauch fand sie ebenso widerwärtig wie den beißenden Duft der  Reinigungsmittel im Krankenzimmer in dem sie vier Monate liegen musste. Vier Monate in einer Hölle aus Schmerzen und Verzweiflung. Eine Hölle, in der man ihr keinen Gnadenschuss gab, sondern Sie wieder penibel zusammenflickte; und aus den Resten, die sie von der Straße kratzten, dieses Monster formten, das nun in einer abgelegenen Bauernkapelle saß und auf Arbeit und Absolution wartete. Sie wollten nun, dass Amelia ihre blutigen Taten bereuen sollte. Taten, die in der Natur eines Monsters lagen.


Sie würde nichts bereuen. Niemals. Warum auch? Amy lebte erst seit drei Wochen in diesem Dorf, aber Sie wusste, dass sie in dieser Strafkapelle noch öfters sitzen würde.


„Ich frage mich, wo der Pastor bleibt“, sagte der Schmale und spielte mit seiner fertiggedrehten Zigarette herum. Er überlegte sich wohl ernsthaft das Ding in der Kirche anzustecken.


Mit seinem blau-gelb-gestreiften Pulli und der femininen Figur wirkte er wie einer dieser New Yorker Künstler  der Lower-East-Side. Sie fragte sich, was der Bursche wohl ausgefressen hatte, um am frühen Samstag in dieser Strafkapelle seine Ehrenrunde zu drehen.


„Ja, wo bleibt der?“, erwidert der blonde Johnny laut, schnalzte mit der Zunge und lies es in der Kapelle hallen. „Wir sollen hier so früh auftauchen und der Alte dreht noch eine Extrarunde in seinem Bett.“

New York schmunzelte spöttisch.


In einer Seitenwand zum verlassenen Altar rüttelte es am Schloss einer Tür. Die Türen der Strafkapelle waren wohl allgemein etwas störrisch.


„Wenn man vom Teufel spricht…“, murmelte New York finster.


Fortsetzung folgt...


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